– der Neubau von 1972
In den 1960er-Jahren erreichte der sogenannte »Bildungsnotstand« auch das Gymnasium für Jungen (GfJ). Eine durch die »Babyboomer« immer weiter steigende Schülerzahl traf auf zu wenige Lehrkräfte. Zeitweise konnte der Unterricht nicht mehr vollständig gewährleistet werden. Dieser Notstand offenbarte sich auch im Schulgebäude: Der historische Bau war nicht nur viel zu klein, sondern auch veraltet. Ein Großteil des Inventars hatte sich seit der Kaiserzeit kaum verändert.
Schließlich wurden die Mängel so offensichtlich, dass man an einer großflächigen Modernisierung nicht mehr vorbeikam. In der Politik gab es eine breite Diskussion, wie eine solche Modernisierung auszusehen habe. Kurzzeitig wurde sogar der Abriss großer Teile des jetzigen Altbaus angedacht.
Einigen konnte man sich schlussendlich auf einen fortschrittlichen Neubau an der westlichen Seite des Altbaus, der besonders den in der Nachkriegszeit so wichtig gewordenen Naturwissenschaften genug Raum und modernste Technik bereitstellen sollte.
Der Bau sollte an Stelle des Rektorenhauses, eines Teils des historischen Altbaus, errichtet werden. Da Denkmalschutz in jener Zeit weniger relevant war, riss man diesen Gebäudeteil 1970 unter dem Motto »Nur wo Altes weicht, kann Neues entstehen« ohne große Proteste ab. Nach zwei Jahren Bauzeit wurde der Neubau 1972 zusammen mit der ebenfalls neu errichteten Turnhalle bezogen. Für letztgenannte musste der Aulaanbau, der im ersten Obergeschoss die Bühne und darunterliegend den Geräteraum der Turnhalle beherbergte, weichen.
Seitdem ist die Aula verstümmelt, erst seit Übernahme der Osterstegschule und der dortigen Aula verfügt das Ubbo-Emmius-Gymnasium wieder über einen vollwertigen Veranstaltungsraum mit Bühne und dauerhaft installierter technischer Ausstattung.
Der Neubau gehört heute zum festen Erscheinungsbild der Schule. Die Schüler:innen verbringen in diesem einen großen Teil ihrer Schullaufbahn. Trotzdem wird das Gebäude aufgrund seiner Architektur der 1970er-Jahre, die im Kontrast zu der Architektur des Altbaus steht, oft kritisiert. Die Zeitgenossen haben das freilich anders gesehen, die Lokalzeitung lobte seinerzeit die Innovationskraft des Architekten und dessen gelungene Verknüpfung von Altem und Neuem.
Ein Hauptproblem der Planer war die Schaffung eines »nahtlosen« Überganges vom Altbau her, der Blick auf das Gymnasium sollte sich auch noch in Zukunft lohnen. Heute darf gesagt werden, daß die Fassade ins Stadtbild passt, daß der neue Flügel des alte Schulgebäude nicht erdrückte.
Ostfriesen-Zeitung Nr. 201 vom 29. August 1973.
Und auch auf dem Bauzaun, der die Baugrube schützte, stellte man die Planungen stolz heraus – und schoss dabei auch mal über das Ziel hinaus.
Im Innern des Neubaus nutzte man entsprechend der zeitgenössischen Mode Holzverkleidungen, die zwar aufwendig gestaltet waren, aber schon nach wenigen Jahren weder dem Geschmack noch den Anforderungen des Brandschutzes entsprachen.
Inzwischen ist die Ästhetik der 70er Jahre zumindest im Innern verschwunden, doch jenseits der Reduktion der Zierelemente ist die Bausubstanz des Neubaus in miserablen Zustand. Ein enormer Sanierungsstau beeinträchtigt das Schulleben am UEG seit so vielen Jahren, dass er 2022 von Schüler:innen zum adäquaten Motto für den Abistreich auserkoren wurde: Unter dem Schlagwort »ABiRISS« boten sie ihre Schule als »Bruchbude for Sale« an.
Hinzu kommt, dass sich die seinerzeitigen Hoffnungen, mit dem Neubau für die Zukunft gebaut zu haben, angesichts der weiter deutlich gestiegenen Schüler:innenzahl nicht dauerhaft erfüllte:
Dabei ging er [der Bauingenieur Wilhelm Baer, Anm.] bei Baubeginn [1967, Anm.] noch von der Schülerzahl 639 und von nur 39 Lehrkräften aus. Heute [1973, Anm.] beherbergt das Ubbo-Emmius-Gymnasium über 850 Jungen und gut 60 Pädagogen. Alleine aufgrund der angestiegenen Schülerzahl ergab sich innerhalb der Jahre ein Mehrbedarf von rund 35 Prozent. »Wir haben glücklicherweise für die Zukunft gebaut«, erklärte Baer dazu. 34 Klassenzimmer und drei nicht genutzte Noträume im Keller stehen zur Verfügung.
Ostfriesen-Zeitung Nr. 201 vom 29. August 1973
Heute werden am Ubbo-Emmius-Gymnasium rund 1300 Schüler:innen von etwa 120 Lehrerinnen und Lehrern unterrichtet – seit 2010 im Erweiterungsbau Pavillon auf dem Schulgelände und auch im Ostersteggebäude.
Was (sehr) lange währt, wird langsam besser
Seit Beginn des Jahres 2024 nimmt der Schulträger die Sanierung des 1909 errichteten Altbaus in Angriff. Das Unterfangen, das wegen der notwendigen Beschaffung eigens angefertigter Manufakturdachziegel aus Mitteln der Deutschen Stiftung Denkmalschutz bezuschusst wird, unterliegt strengen denkmalschutzrechlichen Auflagen und wird bei laufendem Schulbetrieb fortgeführt. Geplant ist zunächst eine Fassaden- und Dachsanierung; auch die Zierelemente der Fassade werden dabei einer Erneuerung unterzogen – die alten Fenster aber bleiben wohl. Zum zweiten Mal nach 1972 ist das Ubbo-Emmius-Gymnasium damit Großbaustelle – es sieht sehr anders und doch recht ähnlich aus wie vor 52 Jahren, wie ein Bildvergleich zeigt.
Und heute muss vermutlich, anders als damals, kein Teil des Altbaus weichen.
Während der Altbau also 115 Jahre nach seiner Errichtung endlich saniert wird, drückt im Neubau bei Starkregen das Wasser durch die geschlossenen Fenster. Aber rein rechnerisch gibt es auch hier eine klare Perspektive: Wenn wie beim Altbau zwischen Errichtung und Sanierung 115 Jahre lägen, wäre der Neubau schon 2087 an der Reihe. Und vielleicht tauscht man dort die Fenster dann gleich mit aus…