Warum wurde unsere Schule 1972 nach diesem Mann benannt? Wer war er? Was bestimmte ihn und was bewirkte er?
Was Ubbo Emmius nicht war: Er war nicht der erste Schulleiter der 1584 neugegründeten Lateinschule in Leer, der Vorläuferin unseres Gymnasiums. Er war ihr zweiter Rektor. Aber unter seiner Leitung (1588 – 1594) wurde die Schule schnell sehr erfolgreich und ihr guter Ruf verbreitete sich über Ostfriesland hinaus.
Die Schüler wurden vor allem in Latein, Griechisch, Dialektik und Rhetorik, aber auch in Religion und Musik unterrichtet. Sie sollten die alten Sprachen nicht nur lesen und schreiben lernen, sondern in ihnen Reden halten und diskutieren können. Latein war damals die Lingua franca – wie Englisch heute –, eine Sprache also, in der sich Gelehrte überall verständigen konnten.
Ziel der Schüler war es, danach an einer Universität zu studieren, um schließlich Führungspositionen übernehmen zu können. Im Sinne des Humanismus sollte die Schule aber auch ihre Persönlichkeit bilden, sie zu besseren Menschen machen – und jeden nach seinen Begabungen fördern. Emmius‘ großes Vorbild war dabei Erasmus von Rotterdam.
Bevor Ubbo Emmius nach Leer kam, war er Schulleiter der Lateinschule in Norden gewesen. Danach ging er nach Groningen, wo er bis zu seinem Tod lebte. Beide Wechsel haben mit der religiösen und politischen Situation in Europa im 16. Jahrhundert zu tun.
Im Gefolge der Reformation und des Augsburger Religionsfriedens 1555 war es im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zur sogenannten Konfessionalisierung gekommen. Landesherren versuchten nach dem Grundsatz »cuius regio eius religio«, ihrem jeweiligen Territorium ihren Glauben bzw. ihre Konfession aufzuzwingen. Wollte ein Untertan das nicht akzeptieren, blieb ihm nur zu emigrieren.
Ubbo Emmius war seit seinem Studium in Genf Anhänger des Calvinismus, weshalb er als Schulleiter in Norden, das von dem lutherischen Grafen Edzard II. beherrscht wurde, in einen Konflikt geriet und zum Rücktritt gezwungen wurde. 1588 emigrierte er in das Leer des calvinistischen Grafen Johann.
In Leer wurde er zwar kein »Universalgenie« wie Leonardo da Vinci, aber das, was man in seinem Zeitalter einen »Universalmenschen« nannte: vielseitig gebildet und vielfältig tätig.
Er war Historiker und Geograph. Emmius verfasste hier die ersten zehn seiner insgesamt 60 Bücher umfassenden »Rerum Frisicarum historia« (Friesische Geschichte) und zeichnete die erste detailgetreue Karte Ostfrieslands – eine ostfriesische Ikone. Der Wissenschaftler arbeitete dabei nach neuen Kriterien, die bis ins 19. Jahrhundert Maßstäbe setzten und heute als Quellenkritik bezeichnet werden, und mit Methoden, die typisch sind für die Renaissance (»ad fontes«). Er war also ein kritischer und damit in gewisser Weise moderner Mensch.
Dabei war Freiheit ein zentraler Wert seines Denkens und Handelns. Sie ist allerdings weniger als Freiheit des Individuums zu verstehen, sondern als Freiheit der Stände gegenüber dem Ansinnen von Landesherren, den Absolutismus in ihrem Territorium einzuführen – wie die Cirksena in Ostfriesland dies wollten. Ubbo Emmius vertrat dagegen ein Recht auf Widerstand, das er mit der »Friesischen Freiheit« begründete. Konkret beriet er die ostfriesischen Stände und besonders die Stadt Emden in ihrem Freiheitskampf gegen den Grafen – mit Erfolg: Im »Osterhuser Akkord« von 1611 wurde das Recht der Stände auf Gesetzgebung, Steuererhebung und Rechtsprechung festgeschrieben. Die Gewaltenteilung war vorerst gesichert.
Auf Wikipedia wird Ubbo Emmius daher als »Vorläufer des Parlamentarismus« bezeichnet, von dem »eine direkte Linie zu Jean-Jacques Rousseau und in die Französische Revolution« führe.
1595 übernahm Emmius die Leitung der Lateinschule in Groningen. Der Kontakt dorthin war durch befreundete calvinistische Emigranten entstanden, die aus den spanischen Niederlanden emigriert waren. Sie holten ihn nach ihrer Rückkehr nach Groningen.
Dort ging es mit Ubbo Emmius‘ Karriere steil bergauf. 1614 gründete er mit anderen Professoren die Universität Groningen und wurde deren erster »Rector Magnificus«. Außerdem war er Professor für Geschichte und Griechisch.
Ubbo Emmius wurde 78 Jahre alt. Er starb 1625 in Groningen. Seine Grabplatte befindet sich heute noch auf dem Universitätscampus.
Ubbo Emmius und unsere Schule
1909, als unser Altbau eingeweiht wurde, kam das erste Mal der Wunsch auf, das damalige »Königliche Realgymnasium und Gymnasium« nach Ubbo Emmius zu benennen. Dieser Wunsch wurde von den preußischen Verantwortlichen abgelehnt. Vielleicht war ihnen die Namensgebung nach einem Freiheitskämpfer suspekt.
Das Upstaalsboomrelief, das in jenem Jahr am Altbau angebracht wurde und in Folge der großen Umbaumaßnahmen der 1970er-Jahre an der Außenwand der Sporthalle hängt, mag aber schon 1909 an den großen Gelehrten und ehemaligen Schulleiter erinnert haben – auch wenn die Auftraggeber des Reliefs die »Friesische Freiheit«, für die der Upstaalsboom steht, anders interpretiert haben mögen – im Sinne des nationalistischen und frankophoben Denkens der Kaiserzeit.
Auch 1972 war die Benennung nach Ubbo Emmius tatsächlich kein Selbstläufer, sondern ein Kompromiss, wie Dieter Schütze, Schulleiter unseres Gymnasiums von 1972 bis 1998, auf dem Festakt anlässlich unseres Schuljubiläums 2022 berichtete.
Denn wenn es 1971 nach dem Willen des Kollegiums gegangen wäre, trüge unsere Schule den Namen ihres berühmtesten Schülers: Ernst Reuter besuchte das »Königliche Realgymnasium und Gymnasium« während der Kaiserzeit und erhielt 1907 sein Reifezeugnis. Weltbekannt wurde er unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Zur Zeit der Berlin-Blockade 1948 war er Bürgermeister West-Berlins. In seiner berühmten Rede »Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!« forderte er die Solidarität der freien westlichen Welt im Kampf gegen die Sowjetunion und den Kommunismus.
Der Rat der Stadt Leer, die damals noch Schulträger war, votierte indes 1971 für einen anderen Namen: »Bernhard-Bavink-Gymnasium«. Heute wäre dieser Name mit Sicherheit umstritten, denn Bavink – wie Ernst Reuter Schüler der »Doppelanstalt« im Kaiserreich – war nicht nur Naturwissenschaftler und Naturphilosoph, sondern auch Eugeniker, der u. a. die Euthanasie der Nationalsozialisten grundsätzlich befürwortete.