Aus Sicht der Nachwelt bemerkenswerte Ereignisse scheinen den Zeitgenossen mitunter erstaunlich gleichgültig gewesen zu sein. Die Zäsur, die die Aufnahme von Mädchen an das nun nach Ubbo Emmius benannte Leeraner Gymnasium nach fast 390-jähriger Schulgeschichte bedeutet haben muss, wird 1972 kaum gewürdigt. Das einzige Zeugnis im Schularchiv ist eine spröde Aktennotiz. Der Chronist notierte: »In der Zeit vom 28.2.-4.3. wurden für die Klassen 5 134 Jungen und 10 Mädchen angemeldet.«
Ansonsten – nichts; keine Fotos, keine Diskussionsmitschriften, keine Informationen zu Fortbildungen für den Umgang mit dem anderen Geschlecht. Was aber, wenn das Fehlen weiterer Unterlagen eben kein Ausweis von Gleichgültigkeit ist? Versetzen wir uns in die Situation 1972: Willy Brandt regiert erfolgreich, geht im Dezember in seine zweite Amtszeit. Am 16. Januar verfügt das Bundesinnenministerium, dass die Bezeichnung »Fräulein« in Behörden ausgedient habe, und in Essen und Duisburg werden die Universitäten neuen Typs gegründet, die sich schon im Namen selbstbewusst abgrenzen: »Universität-Gesamthochschule« Und in Leer? Ein altehrwürdiges Gymnasium mit immer noch traditionsbewusster Lehrerschaft in einem ebenfalls traditionell geprägten, ländlichen Raum. Das Nachbargymnasium, ursprünglich ein reines Mädchengymnasium, wird schon seit 1969 koedukativ geführt und erhält einen kompletten Neubau. Die ersten Studienreferendare, die »1968« an den Universitäten erlebt haben, nähern sich, und das lange Zeit männlich dominierte Kollegium muss sich darauf einstellen, zunehmend Lehrerinnen aufzunehmen – und Schülerinnen noch dazu. Der Takt der Veränderung wird schneller – die Schule wird baulich verändert, aber sie wird sich auch im Inneren wandeln. Insofern ist der dokumentarische Mangel vielleicht Ausweis von Überforderung, Belastung, Unsicherheit. Die Männer machen »dicht«.
Was Spekulation ist, lässt sich durch die Erfahrungen der ersten UEG-Schülerinnen belegen, die sich Jahrzehnte später erinnern:
Die Lehrer – erstaunlicherweise waren es nun gerade in dieser ersten Mädchenklasse vor allem recht alte, kurz vor der Pension stehende Lehrer – haben so getan, als gäbe es keine Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen. Das war schon recht demonstrativ à la „Wenn ich den Elefanten im Raum ignoriere, ist er nicht da“. Der Ton war rau und wurde auch so beibehalten, beispielsweise wurde man mit dem Nachnamen angesprochen.
aus einem Interview mit Schülerinnen der ersten Stunde
Im Sportunterricht wurde aus Ignoranz dann zuweilen mehr oder weniger subtile Verdrängung. Nicht nur, dass auch die Schülerinnen im Standardsportdress – einem Leibchen mit der alten Aufschrift »Gymnasium für Jungen« – antreten mussten:
In einem Jahr waren wir nur zwei Mädchen, die den Sportunterricht gemeinsam mit den Jungen machen mussten. Das war die Hölle. Wenn die Jungen Fußball spielten, und das taten sie oft, wurden wir zwei Mädchen ins Tor gestellt. Man wusste also nicht nur nicht, wohin mit uns, sondern wir wurden quasi zum Abschuss freigegeben. Einmal habe ich mich aus der Stunde herausgeschlichen. Das hat der Lehrer nicht einmal gemerkt. Nur meine Klassenkameradin, die ich leider im Stich gelassen hatte.
aus einem Interview mit Schülerinnen der ersten Stunde
Loyalitätskonflikt und Unterdrückung: Die ersten Jahre waren offenkundig hart, zumal für Mädchen, deren Eltern den Schulbesuch ihrer Kinder als Politikum und Möglichkeit gesellschaftlichen Wandels sahen:
Meine Mutter hatte die Idee. Sie war Künstlerin und immer schon ein bisschen frauenbewegt. Sie wollte endlich mehr Gleichberechtigung auf den Schulen.
aus einem Interview mit Schülerinnen der ersten Stunde
Doch die Geschichte geht, aus Sicht der Gegenwart, gut aus: Heute werden am ehemaligen »Gymnasium für Jungen« 736 Mädchen und 575 Jungen von weit über einhundert Lehrerinnen und Lehrern unterrichtet.