»Gedanken vom Beruf des Deutschen in der Welt und vom Sinn des Krieges – Ein Fichte-Vortrag«
Vorbemerkungen von Astrid Köhler
Am 15. November 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, hielt ein Referendar in der Aula des »Königlichen Realgymnasiums und Gymnasiums« in Leer einen Vortrag mit dem Titel »Gedanken vom Beruf des Deutschen in der Welt und vom Sinn des Krieges – Ein Fichte-Vortrag«.
Bei diesem Referendar handelte es sich um Adolf Grimme, den späteren Namensgeber des Grimme-Preises, eines sehr renommierten Medienpreises in Deutschland.
Der Titel der Rede lehnt sich an das Gedicht »Deutschlands Beruf« von Emanuel Geibel aus dem Jahr 1861 an. Dort heißt es am Schluss: »Und es mag am deutschen Wesen/ Einmal noch die Welt genesen«. Diese Verse wurden im Kaiserreich (1871-1918) umgedeutet zum imperialistischen Schlagwort: »Am deutschen Wesen soll die Welt genesen.«
In diesem Sinn argumentiert auch Adolf Grimme 1916. Behauptet wird eine kulturelle Überlegenheit der Deutschen, die deshalb zur Kultivierung der ganzen Welt berufen seien. Dem Materialismus und der Machtbesessenheit Großbritanniens wird der Idealismus Deutschlands gegenübergestellt: »[…] England will an der gesamten Erde verdienen. England will die Menschheit beherrschen, der Beruf des deutschen Volkes ist es, erster Diener der Menschheit durch freie tätige Hingabe an die Sache zu sein.«
Grimmes Nationsbegriff ist dem Zeitgeist des Kaiserreiches entsprechend chauvinistisch, dabei aber nicht völkisch-rassistisch wie der des Nationalsozialismus: »Deutschtum liegt nicht im Geblüt, sondern im Gemüt«.
Den Krieg bezeichnet der Autor – dem antiken griechischen Philosophen Heraklit gemäß – als »Vater aller Dinge«. Sein Sinn liege darin, der deutschen Kultur zum Sieg zu verhelfen.
Der Untertitel der Rede – »Ein Fichte-Vortrag« – rekurriert auf Johann Gottlieb Fichte, einen der namhaften Philosophen des deutschen Idealismus und der deutschen Romantik, der 1808 nach der Niederlage Preußens gegen die Franzosen unter Napoleon seine »Reden an die deutsche Nation« verfasste.
Fichtes Gedanken zur deutschen Nation werden in der Wissenschaft damals und heute unterschiedlich gedeutet: Die einen sehen in ihm den Kosmopoliten, dem es nicht um eine militärische, sondern um eine geistige Vorherrschaft Deutschlands in der Welt gegangen sei.
Die anderen charakterisieren ihn als Vorboten eines extremen deutschen Nationalismus, seine Ideen gar als Blaupause für den »Generalplan Ost«. Die Gegenseite erwähnt Grimme in seinem Vortrag: »Unsere Philosophie sei eine Philosophie der brutalen Gewalt, und der Vater dieser Gewaltphilosophie und damit des deutschen Militarismus sei Johann Gottlieb Fichte.«
Der Redner lehnt diese Interpretation der Philosophie Fichtes und des Charakters der Deutschen ab. Sie ist ihm mindestens zu einseitig – und zu negativ. Er sieht seine Landsleute zwiegespalten, aber positiv – ganz in der Tradition der deutschen Romantik: »Der Deutsche ist grübelnder Träumer und Täter des Worts, ein richtiger deutscher Michel mit der Schlafmütze auf dem Ohr und dem Eichenknüppel in der schwieligen Faust.«
Adolf Grimmes Vortrag fand zugunsten der Kriegswohlfahrtspflege statt und ist im Kern ein Appell an die Opferbereitschaft seiner Zuhörer:innen (es waren ausweislich der Anrede auch Frauen im Publikum) und an ihre Willensstärke. »Nicht die Gewalt der Armee, noch die Tüchtigkeit der Waffen, sondern die Kraft des Gemütes, aus der die Liebe zur Idee quillt, ist es, die Siege erkämpft«, zitiert der Redner einen populären Fichte-Ausspruch.
Dass die Schüler des »Königlichen Realgymnasiums und Gymnasiums« in Leer – wie überall im Kaiserreich – als zukünftige Soldaten seit Jahren in diesem Sinne konditioniert wurden, spiegelt der Deutschaufsatz Ernst Reuters in der Reifeprüfung 1907 wider, der eben dieses Zitat in abgewandelter Form zum Thema hatte. Ernst Reuter wird später Berliner Bürgermeister, der in seiner berühmten Rede während der Berlin-Blockade 1948 die »Völker der Welt« zur Solidarität mit West-Berlin im Kampf um deren Freiheit auffordert.
Den historischen Hintergrund des drängenden Appells Adolf Grimmes kann man der Kriegschronik des Jahres 1916 entnehmen: Vom 24. Oktober bis zum 16. Dezember eroberten die Franzosen in verlustreichen Kämpfen die Festungswerke bei Verdun zurück. Der sogenannte »Kohlrübenwinter«, eine Hungersnot im dritten Kriegswinter, stand schon vor der Tür. Und am 2. Dezember sollte im Reichstag über das »Vaterländische Hilfsgesetz« abgestimmt werden (das gegen die Stimmen der SPD angenommen wurde): Jeder männliche Deutsche zwischen 17 und 60 Jahren konnte nun zum Hilfsdienst in der Kriegswirtschaft und anderen kriegswichtigen Stellen eingezogen werden. Franzosen und Briten hatten sich gegen Verhandlungen mit den Deutschen und für den Kampf bis zum »Knock-out« der Deutschen ausgesprochen.
Adolf Grimme wird 1922 Mitglied der SPD und Kulturpolitiker in der Weimarer Republik. Während der NS-Zeit ist er aufgrund seiner politischen Gegnerschaft zu den Nationalsozialisten ohne feste berufliche Anstellung. 1942 verhaftet ihn die Gestapo wegen Kontakten zum Widerstand gegen das NS-Regime. Grimme wird zu Zuchthaus verurteilt. In der unmittelbaren Nachkriegszeit ist er der erste niedersächsische Kultusminister und später Generaldirektor des NWDR (Nordwestdeutscher Rundfunk).
1959, als unsere Schule ihr 375-jähriges Jubiläum feiert, bittet ihn die Schülerzeitung »Vorhang auf« um Erinnerungen an seine Zeit in Leer. In einem Brief merkt er zu seinem denkwürdigen Vortrag nur am Rande an, »an Vorträgen philosophischer Natur hatte es schon seit 1916 bei mir nicht gefehlt«.
Wir dokumentieren den Wortlaut der Grimme-Rede im Folgenden: